Systemische Evolutionstheorie 2

Ein kritischer Kommentar zu Peter Merschs Buch: „Ich beginne zu glauben, dass es wieder Krieg geben wird.“

 

Zur Anwendungsbreite der Evolutionstheorie

  1. In seinem neuen Buch ist es Peter Mersch meines Erachtens gut gelungen, die in meinem Kommentar zur systemischen Evolutionstheorie aufgezeigte Lücke zur physikalisch-chemischen Evolution zu schließen, so dass nunmehr eine Evolutionstheorie vorliegt, die vom Prinzip her auf den gesamten Bereich von der unbelebten Materie bis zu den Superorganismen der menschlichen Gesellschaft anwendbar ist und damit auch die Entstehung des Lebens aus unbelebter Materie einschließt. (siehe hierzu auch die Diskussion in meinem Gästebuch)
  2. Die Ausdehnung der Evolutionsprinzipien auf soziale Superorganismen wurde weiter ausgebaut, bleibt aber auf halbem Wege stehen und  die Potentiale der Systemischen Evolutionstheorie werden noch nicht voll ausgeschöpft. Nicht nur Wirtschaftsunternehmen, Vereine und Institutionen können als Superorganismen betrachtet werden, sondern auch die auf noch höherer Ebene operierenden sozialen Organisationen, wie Parteien, Kommunen, Länder, Staaten, regionale Staatenbünde, UNO und NRO`s. Alle diese Organisationen verfolgen ihre eigenen Interessen, kämpfen um Erhaltung und Erweiterung ihrer Kompetenzen und müssten bei Betrachtungen zu den Aussichten auf zukünftige Entwicklungen unter diesen Gesichtspunkten analysiert werden. Bei Mersch gibt es zwar Ansätze zu solchen Analysen, aber nicht durchgängig. Tut man dies aber durchgängig, kommt man auf vielen Gebieten zu anderen Schlussfolgerungen. Dies wird natürlich immer schwieriger, weil die Probleme auf den höheren Ebenen immer komplexer werden.
  3. Überall erzeugen die egoistischen Kurzzeitinteressen der Evolutionsakteure der unteren Ebenen langfristige altruistische Interessen, die den Antrieb zur Kooperation und zur Herausbildung von egoistischen Interessen auf einer höheren Ebene bilden. Dies wird von Mersch ja auch im Abschnitt 2.9 so interpretiert. Wie sich bei vielen Tierarten eine Mischung von „Tauben“ und „Falken“ als evolutionär stabile Strategie herausstellt, so ergeben auf allen Organisationsebenen egoistische und altruistische Interessen ein evolutionär stabiles dynamisches Gleichgewicht. Deshalb werden auch altruistisch orientierte linke Bewegungen wie auch lokale Kriege immer wieder neu entstehen. Auch wenn sie keinen Erfolg haben, erzeugen sie einen Antrieb zur Weiterentwicklung und Höherentwicklung der Superorganismen.
  4. Von der Herausbildung eines solchen evolutionär stabilen Gleichgewichtes wird es entschieden werden, ob es wieder Weltkrieg gibt oder nicht. Egoistische und altruistische Interessen werden solange miteinander ringen, bis es auf globaler Ebene einen anerkannten Schiedsrichter in Form einer demokratisch gewählten Weltregierung geben wird. Dieses Ziel und die Tendenz dahin sind heute klar erkennbar, wenngleich noch nicht allgemein anerkannt und der Zeitrahmen noch völlig offen.
  5. Weil diese internationale Kooperation bereits auf der Tagesordnung steht und z.T. bereits entsteht, werden die Kompetenzerhaltungsinteressen auch auf den unteren gesellschaftlichen Ebenen ihre Evolutionsstrategien darauf ausrichten müssen. Deshalb glaube ich, dass durch erfolgreiche Verbreitung der systemischen Evolutionstheorie ein Beitrag zur Verhinderung eines großen Krieges geleistet werden kann. Kriegerische Strategien werden derart teuer und verlustreich, dass friedliche Strategien einfach vorteilhafter sind. Ich glaube deshalb  nicht, dass es wieder einen Weltkrieg geben wird. Lokale Kriege sind ja ohnehin ständig im Gange. Ihre Funktion sehe ich darin, ständig vor Augen zu führen, wie teuer Kriege sind.

 

Zum Problem der Bevölkerungsentwicklung

Für bislang im Rahmen der systemischen Evolutionstheorie betrachtete Superorganismen wie Wirtschaftsunternehmen, Vereine und Institutionen kann die Bevölkerung und deren Entwicklung noch als eine Umgebung des betrachteten Systems behandelt werden, die benötigte Ressourcen bereitstellt, die als Allmende verbraucht werden können und deren nachhaltige Pflege nicht zu den Kompetenzerhaltungsinteressen des Superorganismus gehört. Sobald man aber staatliche und gesellschaftliche Organisationsformen nicht als von Politikern fremdgesteuerte Systeme, sondern als selbstorganisierende und selbstreproduzierende Superorganismen betrachtet und begreift, gehören Bevölkerung und deren Entwicklungs- und Ausbildungsprobleme zu den wichtigsten Kompetenzinteressen des Superorganismus und müssen entsprechend behandelt werden. Das scheinen viele Politiker noch nicht begriffen zu haben. Die Ursache dafür sehe ich darin, dass in kommunalen und staatlichen Organisationen noch immer das Recht des Stärkeren und nicht das Recht des Besitzenden vorherrscht. Das Recht des Besitzenden kann sich nur durchsetzen, wenn die Bevölkerung juristisch und faktisch die volle Verfügungsgewalt über das gesellschaftliche Eigentum des jeweiligen Superorganismus besitzt, zu dem sie gehört. Die Veränderung der Eigentumsverhältnisse in Richtung gesellschaftlichen Eigentums ist deshalb eine der wichtigsten politischen Zukunftsfragen, wie es von den Linken seit langem gefordert, aber noch nirgends befriedigend gelöst wird. Wenn man Evolutionsfragen gesellschaftlicher Systeme diskutieren möchte, kann man deshalb die Politik nicht außen vor lassen.

Politik ist die Ebene, auf der die widersprüchlichen Interessen verschiedener gesellschaftlicher Gruppen und Schichten aufeinander treffen und ausgetragen werden und muss deshalb als Instrument der Evolution betrachtet und genutzt werden. Die systemische Evolutionstheorie kann hierzu als theoretische Grundlage dienen, kann aber nicht konkret die anstehenden Probleme lösen. Hier gilt wie bei jeder Evolution: Variation und Selektion sind die Schritte jeder möglichen Weiterentwicklung. Demokratischer Pluralismus ist deshalb die wichtigste Erfindung der Politik und kann die notwendige Variation erzeugen.

Deshalb halte Ich  die Bemerkung von Peter Mersch auf Seite 195: „Ich wäre auch durchaus zu mancherlei Zusammenarbeit bereit, allerdings zu keiner politischen.“ nicht für zukunftsweisend. Zwar stimmt in den meisten Fällen die Feststellung: “Politik ist in meinen Augen reine Interessenvertretung, und zwar einerseits für die aktuelle Generation, andererseits für die menschlichen Superorganismen, das heißt für die Wirtschaft“, aber gerade das kann nur durch politische Aktivitäten von Nichtpolitikern geändert werden, wenn der Superorganismus des Staates den persönlichen Interessen der Politiker entrissen werden soll. Und ich denke, dass gerade dies notwendig ist und die Gesetze der Evolution das letztlich auch bewirken werden.

 

Zur Evolution von Intelligenz

Die Betrachtungen von Peter Mersch zur Evolution von Intelligenz in modernen Gesellschaften finde ich zwar bemerkenswert, aber zu einseitig und nicht der Komplexität des Problems angemessen. Insbesondere halte ich die Schlussfolgerung, dass in demokratischen Gleichstellungsgesellschaften ein systematisches Absinken des Intelligenzniveaus eintreten muss, einerseits nicht für zwingend und andererseits zu pessimistisch bewertet. Dazu habe ich folgende Einwände:

 

Ich behaupte nicht, dass meine hier dargelegten Argumente zur Intelligenzentwicklung bewiesen wären, aber sie beschreiben mindestens Möglichkeiten zukünftiger Evolution. Entschieden wird wie immer in der Evolution durch Versuch und Irrtum, Variation und Selektion. Derart komplexe Prozesse kann man nicht wirklich vorhersagen. Man beginnt auch immer mehr zu erkennen, dass Menschen nicht unbedingt nur rational-ökonomische Entscheidungen treffen, sondern dass soziale Wechselwirkungen erheblichen Einfluss auf ihre Entscheidungen haben.

Das von Mersch im 11. Kapitel vorgeschlagene Familienmanagermodell wäre ja durchaus eine alternative Möglichkeit, deren Realisierung allerdings eine aktive politische Mitwirkung solcher kritischer Menschen wie Peter Mersch erfordern würde. Es müssen Menschen vorangehen, die weit in die Zukunft sehen, aber die gibt es immer.

Eine ausgewogene Darstellung der Evolution des Bewusstseins, die sowohl dem erblichen als auch dem von Erziehung, Bildung und Sozialisierung bestimmten Anteil gleichermaßen gerecht wird, findet sich m.E. bei Holzkamp.

Antibiologistische Weltbilder

Antibiologistische Weltbilder sind genauso falsch wie biologistische, sie entsprechen nicht den realen Verhältnissen, wie sie von der Evolution geschaffen wurden. Aber man muss die Frage aufwerfen, warum sie dennoch entstanden sind. Die Menschen sind genetisch nicht gleich, dennoch können soziale Unterschiede nicht allein auf genetische Ursachen zurückgeführt werden. Da dies aber vom Biologismus, insbesondere von Dawkins, behauptet wird, Ist es leicht einsehbar, dass auch gegenteilige Auffassungen entstehen müssen. Peter Mersch bekämpft den Antibiologismus mit großer Entschiedenheit, wobei leicht der Eindruck entsteht, dass er die ebenso zu analysierenden sozialen Ursachen der Ungleichheit vernachlässigt. Es ist aber Fakt, dass es auch soziale Ursachen der Ungleichheit gibt, die nicht genetisch bedingt, sondern kulturell „vererbt“ sind und werden. Das darf nicht übersehen werden. Wenn intelligente Kinder aus „armen und bildungsfernen Schichten“ nicht gefördert, sondern behindert werden, so verkümmert ihre Intelligenz. Nicht alle Sozial- und Kulturwissenschaftler vertreten antibiologistische Anschauungen, gerade diese aber behindern die soziale Durchlässigkeit der Gesellschaft, weil sie davon ausgehen, die Armen seien die Dummen und könnten sowieso nicht gefördert werden. Dieser Widerspruch wird von Mersch nicht ausreichend thematisiert.

Das demografisch-ökonomische Paradoxon z.B. könnte wie gezeigt zum Absinken des Intelligenzquotienen führen, hat aber eindeutig nicht biologische, sondern kulturell-soziale Ursachen. Die Gesellschaft hat die Umgebungsbedingungen geschaffen, die dazu führen, dass eine Akademikerin weniger Kinder hat als die durchschnittliche Frau. Nur die Gesellschaft kann diese Bedingungen ändern und muss sie auch ändern, wenn die weitere Entwicklung dadurch behindert werden sollte.

Nutzung des Erfahrungspotentials gesellschaftlicher Evolutionsprozesse.

Die auf der Grundlage der systemischen Evolutionstheorie von Peter Mersch entwickelten Vorschläge zur Gestaltung der Zukunft des Menschen müssen ernst genommen werden, auch wenn sie zunächst weiter nichts als Vorschläge sind, deren Erprobung noch aussteht. Sie könnten ein wertvolles Ausgangsmaterial bilden, das Anstöße für neue gesellschaftliche Entwicklungen gibt. Einige dieser Gedanken sind in der DDR, wenn auch teilweise unvollkommen  und mit unterschiedlichem Erfolg, realisiert und somit erprobt worden, ohne dass bisher die gewonnenen Erfahrungen ausreichend genutzt werden. (staatlich gefördertes Bildungswesen, Gesundheitswesen, Kopplung von Beruf und Kindererziehung in Betrieben, erfolgreiche Typen von Produktionsgenossenschaften).

Es stimmt zwar, wenn auf Seite 4 festgestellt wird, dass die traditionellen Weltbilder sowohl der Konservativen als auch der Linken falsch sind oder besser falsch  waren, aber mindestens große Teile der linken Bewegungen sind dabei, ihr früheres Weltbild zu korrigieren.(z.B. hier)

In der systemischen Evolutionstheorie wird Altruismus und Solidarität zwar als eine Folgeerscheinung des Strebens nach höchstmöglicher Kompetenzgewinnung mit niedriger Zeitpräferenz analysiert und gedeutet, aber die Bedeutung solidarischer Bewegungen als gemeinsames Streben sich ihrer sozialen Verwurzelung bewusster Staatsbürger und damit als wesentlicher Triebkraft der Höherentwicklung von Superorganismen bleibt unterbelichtet.

 

3.1. 2012  Bertram Köhler